Im Februar 2012 feierte die Textil-Meile Gamarra im Distrikt La Victoria der peruanischen Hauptstadt Lima ihr 50jähriges bestehen – nun veröffentlichte das Nationalinstitut für Statistik und Informatik INEI beeindruckende Zahlen. Demnach arbeiten – nach offiziellen Angaben – derzeit 51.512 Menschen als Schneiderinnen, Verkäufer oder im Dienstleistungssektor direkt im Umfeld der dort beheimateten Textilindustrie, die zu einem großen Teil aus tausenden Kleinstunternehmen besteht. In Wirklichkeit sind es wohl noch wesentlich mehr, ein Vertreter der Textil-Branche Gamarras spricht von 120.000 Arbeitsplätzen. Das könnte sogar stimmen, erwuchs Gamarra doch vor allem durch arme Familien aus der südperuanischen Region Puno, die sich in La Victoria niederließen und dort Stück für Stück, weitgehend unreguliert und meist informell das aufbauten, was heutige Besucher in Form gigantischer Einkaufsgallerien empfängt: Ein ganzes Stadtviertel in der Hand tausender kleiner und einiger großer Textilindustrieller und Händlerinnen.
Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa beschrieb Ende 2011 in seiner „El País“-Kolumne* Gamarra als einen Ort des „Volkskapitalismus“, als ein „Paradies der Informalität“ und macht – im Rückgriff auf Hayek* – eine „spontane Ordnung“ aus, die fernab des Staates, seiner Gesetze, sowie der formellen Finanzwirtschaft entstanden sei. Mehr noch als schriftliche Verträge, so Vargas Llosa weiter, „hat das gesprochene Wort vorrang“ – und beschreibt, wie Wortbruch in diesem System die vollständige Ausgrenzung zur Folge hat. Und in Gamarra, ebenso wie in vielen der anderen informellen Wirtschaftssektoren Perus, wird viel Geld bewegt; wie viel genau weiß keiner genau, aber die Distriktverwaltung von La Victoria schätzt – konservativ – einen jährlichen Umsatz zwischen 800 Millionen und 2 Milliarden US-$ in dem stetig anwachsenden Textil-Viertel.
Wurden ursprünglich Artikel bekannter Marken ganz kopiert oder kreativ leicht überarbeitet, haben inzwischen auch Marken, die in Gamarra selbst kreiert wurden, ihren Weg in die großen Einkaufszentren Perus gefunden. Die Kopien gibt es natürlich auch weiterhin. A propos Marke: Auch Gamarra selbst wurde zu einer Marke, die inzwischen über das Land hinaus bekannt ist. Auf seiner Internetseite präsentiert sich Gamarra als „das größte Einkaufs- und Kleidungsherstellungszentrum Südamerikas mit fast 20.000 Unternehmen an einem einzigen Ort“. Und im April machte gar eine Abordnung russischer Unternehmer und Wissenschaftler seine Aufwartung, um Möglichkeiten für den Export nach Russland auszuloten.
Obwohl inzwischen auch ein Teil der Rohmaterialien, sowie auch bereits verarbeitete Textilien, die in Gamarra gehandelt werden, aus Ländern mit hohen Agrarsubventionen oder noch niedrigerem Lohnniveau kommen, sind es immerhin – nach offiziellen Angaben – 13.982 Personen, die in einer von Gamarras hunderten Nähereien arbeiten. Den größten Teil stellen aber inzwischen die Händler, die mit 31.706 Personen 61.6% all jener ausmachen, die in Gamarra (nach offiziellen Angaben) ihren Lebensunterhalt verdienen. Dabei besteht Gamarra vor allem aus Kleinstunternehmen: Die 17 größten Textilunternehmer Gamarras kommen zusammen nicht einmal auf 9% des Gesamtumsatzes, gleichzeitig hat kaum ein Textilunternehmer (nach offiziellen Angaben) mehr als zwei Angestellte, in vielen Fällen sind es sogar Einzelunternehmer ganz ohne Mitarbeiter.
Aller großen Zahlen zum Trotze: Die Verwaltung von La Victoria hätte gerne ein größeres Stück des „Gamarra“-Kuchens. Denn: Die noch immer hohe Informalität des Handels in Gamarra führt zu vergleichsweise geringen Steuereinnahmen und unsicheren Einkommensverhältnisse für Angestellte und Kleinstunternehmer.
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